auf dem die kompositorischen Probleme, die Probleme der Aufführung beruhen. Das ist die Disziplin – die Sorgfalt beim Finden, Erlernen und Entwickeln neuer Mittel für Komposition und Aufführung. Wie ist ein psychologisch/physiologischer Knoten verortet, der einen ganz bestimmten Klang hervorbringt; wie werden winzige Kopf- bewegungen parallel zu komplexen Bogenmanövern notiert? Wie trainieren Sie Ihren Körper so, dass Sie im Aufführungsraum zehn Runden laufen können, bevor das Stück anfängt? Wie lässt sich sexualisierter Blickkontakt mit dem Publikum während des Hantierens mit Elektronik herstellen und halten? Wie kann die Idee von Einzel- autor*in und Werk im Kollektiv aufgelöst werden und wie die normale Vorstellung davon, was eine Komposition ist? Und immer, immer gegen die Uhr arbeiten, weil der Rückgriff auf diese Disziplinen den Luxus viel längerer Entwicklungs- und Probenzeiten mit sich bringt als allgemein in der neuen Musik üblich ist. Andererseits genießt die Neue Disziplin auch wieder die Abwesenheit dieses Luxus, der Möglichkeit, sich schnell zu bewegen und Sachen kaputtzumachen. Auf diese Weise ist sie vor allem eine Praxis. Und damit geht einher: Die Neue Disziplin gründet auf der Tatsache, dass Komponist*innen interessiert und bereit sind, selbst zu spielen, sich die Hände schmutzig zu machen, es selbst zu tun, es unmittelbar zu tun. Die Neue Disziplin erblüht aus dem Erbe von Dada, Fluxus, Situationismus usw., aber lässt sich nicht bloß als Dada, Fluxus, Situationismus usw. abschreiben. Diese Musik wird jetzt geschrieben, wo Dada, Fluxus, Situationismus usw. gut in die Jahre gekommen und überall angesehen sind. Die Neue Disziplin setzt diese Stile als selbst- verständlich voraus, liebevoll und frech zugleich, so wie sie Harmonisches und die E-Gitarre für selbstverständlich nimmt. Als Ausgangspunkte. Als Orte, an denen die Arbeit anfängt. Werke der Neuen Disziplin können leicht, sogar wohlmeinend als „Musiktheater“ abgestempelt werden. Zwar sind Kagel und andere Komponist*innen eindeutige Vorfahren, aber seit den siebziger Jahren ist zu viel passiert, als dass der Begriff hier angewandt werden könnte. MTV, das Internet, Beyoncé – die Anne Teresa De Keersmaeker abzockt, Stewart Lee, „Girls“, Style Blogs und Yogakurse in Darmstadt, Mykki Blanco, die Verfügbarkeit billiger Kameras und Beamer, die Überlegenheit von YouTube- Dokumentationen gegenüber Aufführungen. Für die Neue Disziplin geht es vielleicht um die Tatsache, dass diese Stücke, diese Denkweisen über die Welt, diese Komposi- tionstechniken nicht „Musiktheater“, sondern Musik sind. Oder, aus einer anderen Perspektive, geht es vielleicht um die Vorstellung, dass jede Musik Musiktheater ist. Vielleicht sind wir endlich bereit zu akzeptieren, dass die Körper, die die Musik machen, Teil der Musik sind, dass sie Gegenwart, dass sie gültig sind und, bewusst oder unbewusst, unser Zuhören prägen. Dass es nicht zu spät für uns ist, Körper zu haben. — Jennifer Walshe, Roscommon, Januar 2016 Jennifer Walshe ist Komponistin, Performerin und Professorin für Komposition an der Universität Oxford. Ihre Musik wurde weltweit in Auftrag gegeben, übertragen und aufgeführt. Der Text erschien in MusikTexte Nr. 149, die Veröffentli- chung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags MusikTexte Gisela Gronemeyer (Erben). 70