dass mir derartige Akkordfolgen begegneten. In diesem Moment beschloss ich, Komponist zu werden.“!2 Nach seiner Rückkehr in die USA studierte Nelson Komposition und Theorie an der Washington State University in St. Louis sowie an der Lincoln University in Jefferson City, Missouri. Zugleich nahm er Privat- unterricht bei Elliott Carter, einem der renommiertesten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. An der Washington University wurde der ambitionierte Schwarze Kompositionsstudent immer wieder mit Widerständen konfrontiert, als einer der Hochschullehrer versuchte, ihm den Wunsch, Komponist zu werden, auszureden. Stattdessen legte er ihm nahe, Musikpädagoge zu werden – eine seinerzeit allzu gängi- ge Praxis. Nelson erinnert sich: „Er versuchte, mich dazu zu bringen, Musikpädagogik als Hauptfach zu studieren. Ich aber erklärte ihm, das sei nicht, was ich wolle. Er entgegnete: ‚Nun, seien wir doch ehrlich. Da draußen gibt es eine Menge weißer Komponisten, denen der Durchbruch nicht gelingt. Ich bin sicher, dass es angesichts solcher Widerstände sehr schwierig für Sie wird. Warum machen Sie nicht eine Ausbildung, die Sie zum Unterrichten befähigt?‘ Und ich sagte NEIN!“!3 Nelson weigerte sich, sich in irgendeiner Weise einschränken zu lassen. Er war in einem akademischen Kontext, der Schwarze Komponis- ten*innen als Widerspruch in sich selbst betrachtete, der Kontrolle des Schwarzen kreativen Geistes unterworfen – eine Erfahrung, die er mit vielen afrodiasporischen Komponist*innen teilte. 1959 zog Nelson nach New York, wo er eine Reihe von Alben auf- nahm. Den größten Zuspruch von der Kritik erhielt „The Blues and the Abstract Truth“, an dem unter anderem Eric Dolphy, Freddie Hubbard, Bill Evans und Roy Haynes beteiligt waren. 1964 besuchte Nelson erstmals Westdeutschland, anlässlich einer Auftragsarbeit für den Süddeutschen Rundfunk, aus der die Komposition „Sound Piece for Jazz Orchestra“ her- vorging. Sie wurde in Stuttgart im Rahmen der Woche der leichten Musik, einem Festival des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, von Erwin Lehns Südfunk-Tanzorchester mit Nelson als Solist am Altsaxofon aufgeführt. Im Programmheft des Festivals war in Auszügen ein Brief von Nelson abgedruckt, in dem er erklärte: „In Amerika ist es nicht leicht, sich musikalisch zu entfalten. Vielleicht gelingt mir das in Europa.”!4 Nachdem er Anfang 1970 den Kompositionsauftrag für die Berliner Jazztage erhalten hatte, trafen sich Nelson und Berendt „zum ersten Mal auf dem Haneda-Flughafen in Tokio“.!5 Nelson erinnert sich an den Ent- stehungsprozess und die der Komposition zugrundeliegende Idee: „Bei diesem Treffen besprachen wir Detailaspekte der Komposition und kamen zu dem Schluss, dass das Stück von der Stadt Berlin handeln sollte. Ich war nie in Berlin gewesen, konnte aber die Teilung, die politische Situa- tion und die Probleme, denen die Bewohner*innen Westberlins tagtäglich ausgesetzt waren, irgendwie nachvollziehen. Die Gefühle, die diese Stadt in mir auslöste, wurden zweifellos durch die Ähnlichkeiten mit den Ver- hältnissen hier in meinem Land hervorgerufen. In Amerika haben wir die Mason-Dixon-Linie, die die Grenze zwischen den Südstaaten und dem Norden markiert. In Berlin geht es um Ost und West. Die Teilung Berlins ist dabei konkret. Die Mauer, der Stacheldraht, die Soldaten, die Waffen sind sehr, sehr real. Ich fand mich in dieser Realität wieder, als ich die Grenze überquerte, um in Leipzig die Grabstätte von J. S. Bach zu besuchen. Ich muss wohl kaum betonen, dass ich vor dieser Reise etwas nervös war.“!6 Nelson setzte zwei der Konfliktlinien, die das 20. Jahrhun- dert geprägt haben, in Beziehung zueinander: zum einen die Mason- Dixon-Linie, die die Nord- von den Südstaaten abgrenzte und im 19. Jahrhundert im übertragenen Sinn für eine Grenze stand: zwischen Staaten mit Sklaverei und jenen, die als frei galten. Zum anderen die Berliner Mauer, die sinnbildlich für den globalen Kalten Krieg war, der unmittelbar an den Zweiten Weltkrieg anschloss. 14 Jazzfest Research Lab Oliver Nelson, Copenhagen 1965 © Jan Persson/CTSIMAGES 2 Phyl Garland, „The Many ‚Bags’ of Oliver Nelson,“ Ebony, November 1968, S. 118. 3 David N. Baker, Lida M. Belt und Herman C. Hudson, Hrsg., The Black Composer Speaks (Metuchen, NJ: Scarecrow Press, 1978), S. 220. 4 Unternehmensarchiv SWR: Programmbuch Woche der leichten Musik 1964. 5 Oliver Nelson, Liner Notes für Oliver Nelson und „Berlin Dream Band”, Berlin Dialogue for Orchestra, Flying Dutchman FD-10134, Schallplatte, 1971. 6 Edb.