Jurykommentar Es donnert. Wir sind nicht sicher. Wie treffen wir die Entscheidung, wo wir stehen sollen? Wohin sollen wir rennen, damit der Blitz uns nicht trifft? Nirgends ist man sicher. So stürmisch beginnt das Stück „Epic Fail“. Zwischen Blitzen und Wolken stehen acht junge Menschen, die uns schon am An- fang mit vielen wesentlichen Fragen konfrontieren. In diesem Chaos der Ungewissheit und mit dem Wunsch, der Zukunft nicht hilflos zu begegnen, begeben sich die Protagonist*in- nen auf eine Reise in die Vergangenheit. „Kassandra, komm zur Hilfe!“ Wir lachen. Wir möchten, dass die Geschichte nie endet, obwohl wir extreme und gewaltige Dinge erzählt bekommen. Dinge, die heute immer noch passieren und die wir eigentlich längst beendet haben wollten. Aber wir bewegen uns gerade in der griechi- schen Mythologie und deswegen sind solche Dinge einfacher zu schlucken. Bis die Welt der Mythologie in sich zusammenfällt. Was jetzt? Jetzt können wir uns nicht mehr verstecken. Nicht hinter dem Mythos, nicht hinter der Geschichte. Jetzt sind wir selbst gefragt, als einzelne Person. Und damit ähneln wir Kassandra, die nicht gehört wird. „Wie verschafft man sich Gehör und warum ist es so wichtig, einander Glauben zu schenken?“ Im Leben werden wir oft überhört, nicht ernst genommen und haben nicht das Gefühl, wir könnten frei sagen, was uns auf dem Herzen liegt. Indem die anderen weg- hören, werden wir zum Schweigen gebracht. Wir sehen diese acht Protagonist*innen und wir hören ihnen zu. Weil sie auf der Bühne stehen? Aber wie ist es im wahren Leben? Das Gefühl, nicht gehört zu werden, ist den Darsteller*innen vertraut. Die Bühne scheint also genau der richtige Ort zu sein, um diese Sorgen loszuwerden. Aber es gibt noch Hoffnung und diese kommt in Form der Musik. Hier wird das En- semble zu einem Organismus, der als Chor Pop-Songs hervorbringt, die tagelang als Ohr- wurm hängen bleiben. In diesem Moment wird das gegenseitige Empowerment spürbar, es überschreitet die Rampe und überträgt sich auf uns im Zuschauerraum. Wir sind eingela- den, Teil dieser Bewegung zu werden. Dort auf der Bühne ermutigen sie sich gegenseitig. Ein starkes Zusammenspiel, eine tapfere Gruppe, eine Gemeinschaft, die durch einen Prozess der Selbsterkenntnis gegangen ist, um nun ganz klar zu sehen, was Kassandra mit ihnen zu tun hat, wie viel Kassandra in ihnen steckt. Damals hatte Kassandra keine andere Wahl, als zu scheitern, weil sie verflucht war. Aber diese jungen Leute werden laut, glauben an sich, nehmen sich den Raum, um heute das Scheitern zu überwinden. Kommen wir ihnen zur Hilfe? Ein großes Lob an dieser Stelle geht an die Spielleitung, die es geschafft hat, diese diverse Gruppe zu einem gemeinsamen Organismus zu formen, in dem die Individuen dennoch sichtbar bleiben. Jelena Bosanac 7