Jurykommentar „Was guckst du so? Ja, was guckst du so?“ Dreizehn junge Menschen stehen und schauen. In die Vergangenheit. In die Gegenwart. Und vielleicht in die Zukunft. Ein Podest, eine Wand, junge Darsteller*innen in androgynen Kostümen, drei Mikrofone, eindring- liche Texte, Haze, Leuchtstäbe, ein fast durchgehender musikalischer Score mit viel Bass. „So lang ich lebe, lebt Gerechtigkeit.“ macht Politik in einem Nachtclub. Das Tanzen dient weniger der Erlösung, es ist vielmehr ein Bild für Ermächtigung und Selbstermächtigung. In „So lang ich lebe, lebt Gerechtigkeit.“ steckt eine Vorahnung. Die Vorahnung einer Jugend, die den gesellschaftlichen Kipppunkt kommen sieht. Einer Generation, deren Sicherheiten schwer erschüttert wurden, deren Welt auseinanderzubrechen droht. Die Vorahnung eines Ensembles, das vorschlägt, Solidarität höher zu achten als Macht. Das mahnt und warnt. Ihre Antigone ist mutig, bedacht, souverän und liebevoll, ohne naiv zu sein. Sie will ihren Bruder beerdigen, der den Streit um das Königreich nicht überlebt hat. Aber ihr Onkel Kreon, jetzt Herrscher, will ein Exempel statuieren und verweigert die Bestattung. Die Ideologie des Krieges, der Verletzung, der Abschottung steht dem Kon- zept des Vergebens, des Vertrauens, der Freiheit gegenüber. „So lang ich lebe, lebt Ge- rechtigkeit.“, sagt Antigone zu den Menschen, „Der Glaube an meine Taten überlebt mich.“ Die Idee von Menschlichkeit soll eine Zukunft haben, es braucht Verbündete. Das Stück fragt, fordert, pulsiert im Nebeneinander von Erzählsträngen. In selbst geschriebenen Monologen wollen die Spieler*innen wissen: Wie den eigenen Alltagspro- blemen begegnen im Angesicht eines Krieges in Europa? Womit beginnt der eigene Wi- derstand und wann wird er politisch? „Kennst du das, diese Ich-bin-ich-Momente? Dann ist alles so weit weg. Und klein.“ Die Inszenierung lässt widersprüchliche Energien effekt- voll gegeneinander vibrieren. Sie verbindet ausbalanciert den Antigone-Stoff, den Alttag junger Menschen und Rave, Antike und Gegenwart. Sie ist Pathos und Poesie, präzise Formation, energetisches Chaos, Körper, Choreografie, Stimmen, Licht – sie ist Gewalt, Macht, Verbundensein, Solidarität und Befreiung. „So lang ich lebe, lebt Gerechtigkeit.“ begeistert mit großen Bildern und einem Ensemble, das kollektiv erzählt, aber alle Spielenden einzeln sichtbar werden lässt. Mit einer bestechenden Präsenz und Dringlichkeit. Mit Schärfe in den Texten und Lässigkeit in der Haltung. Die Inszenierung ist bemerkenswert kraftvoll und trotzdem durchlässig und zart in den jugendlichen Perspektiven. Eine Sehnsucht überträgt sich. Eine Sehnsucht nach dem Lernen aus der Vergangenheit, nach Miteinander, Verbindlichkeit, nach Frieden. Nach dem verantwortlichen Selbst in der Welt. Aber auch eine Sehnsucht nach dem Los- lassen dürfen. Rieke Oberländer 19